Verletzlichkeit bestimmt unser Leben mehr, als wir es wahrhaben wollen
Vor dem Hintergrund der weitverbreiteten Selbstdeutung des modernen Menschen hat man zunehmend den Gedanken vernachlässigt, dass das menschliche Leben stets in der Interdependenz mit anderen stattfindet. Man hat sich der Einsicht verschlossen, dass die Freiheit des Einzelnen nicht aus seiner Unabhängigkeit, sondern aus seiner Fähigkeit erwächst, kreativ mit Abhängigkeiten umzugehen, schreibt Giovanni Maio.
Während der Pandemie zeigte sich dieses Problem deutlich. Gerade ältere und kranke Menschen wurden als „vulnerable“ Gruppen, die das Gesundheitssystem überlasten, stigmatisiert.
Wenn wir verstehen, dass jeder Mensch verletzlich ist, können wir akzeptieren, dass auch wir selbst verletzlich sind.
Ich möchte hier nicht den Begriff der Empathie verwenden, da er für mich nicht das beschreibt, was wir brauchen, um mit Verletzlichkeit angemessen umzugehen. Wir brauchen „Mitgefühl“. Und nein, das ist nicht dasselbe wie Empathie.
Ein großes Problem unserer Zeit ist Einsamkeit. Professor Maio betont in seinem Buch, dass es wichtig ist, niemanden alleine zu lassen. Er weist darauf hin, dass wir nicht nur für unser eigenes Glück verantwortlich sind, sondern auch andere Menschen brauchen, um glücklich zu sein. Das gilt auch für Menschen, die alleine leben, aber dennoch nicht einsam sind, weil sie einen großen Freundeskreis haben. Wir sind Gemeinschaftswesen und müssen uns gegenseitig unterstützen.
Ethik der Verletzlichkeit im Gesundheitssystem
Allzu oft werden kranke Menschen ihrem Schicksal überlassen. Gerade hierzulande fehlt es oft an Zuwendung in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Arztpraxen. Personalmangel und ein auf Profit ausgerichtetes Gesundheitssystem lassen keinen Raum für die Ethik der Verletzlichkeit. Die Schäden, die dadurch entstehen, kosten uns letztendlich mehr, als man mit Geld bezahlen kann.
Der Autor:
Giovanni Maio, Prof. Dr., geb. 1964, Studium der Medizin und Philosophie in Freiburg, Straßburg und Hagen. Seit 2005 Professor für Bioethik, seit 2006 Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin. Er berät die Deutsche Bischofskonferenz wie auch die Bundesregierung und die Bundesärztekammer.
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