Russische Migrant*innen und ihre Netzwerke im Ausland
Ein neuer ZOiS Report, der auf Tiefeninterviews mit russischen Migrant*innen in Georgien und Deutschland aufbaut, untersucht eine Vielzahl von Initiativen im Antikriegsaktivismus und angrenzenden Bereichen. Neben der Bereitstellung kremlkritischer Informationen aus unabhängigen Quellen für die russische Öffentlichkeit und der Unterstützung von Regimegegner*innen versuchen die Aktivist*innen, neue sozial und politisch engagierte Diaspora-Gemeinschaften aufzubauen.
Nach dem russischen Angriff auf die gesamte Ukraine und der Ankündigung einer Teilmobilisierung im September 2022 verließen Hunderttausende russische Staatsangehörige ihr Heimatland. Eine kleine, aber lautstarke Gruppe von ihnen verfügt über langjährige Erfahrungen mit zivilgesellschaftlichem oder politischem Aktivismus; andere wurden im Zusammenhang mit dem Krieg politisiert, und Teile etablierter russischer migrantischer Gemeinschaften haben sich ebenfalls in humanitären und Antikriegsaktivitäten engagiert.
Um herauszufinden, wie diese sich zu dieser kritischen Zeit (neu) organisieren, haben die ZOiS-Forscherinnen Tsypylma Darieva, Tatiana Golova und Daria Skibo 45 Interviews mit Expert*innen und politisch und sozial engagierten Zugewanderten aus Russland in Deutschland und Georgien geführt – zwei wichtigen Aufnahmeländern für diese Migrationsbewegung. Ihre Analyse zeigt, dass das politische und zivilgesellschaftliche Engagement nicht nur auf Russland ausgerichtet ist, sondern verschiedene Gruppen anspricht, was manchmal zu Spannungen führt.
Die Zivilgesellschaft und die breite Bevölkerung in Russland
Das aufs Herkunftsland bezogene Engagement umfasst ein breites Spektrum von Aktivitäten, die von der Verbreitung unabhängiger Informationen an die russische Bevölkerung über finanzielle Unterstützung bis zur Solidarität mit den in Russland verbliebenen Akteuren der Zivilgesellschaft reichen. Der Aktivismus umfasst auch Hilfe in rechtlichen Fragen, psychologische Unterstützung und praktische Hilfsmittel für die Ausreise aus Russland, insbesondere für diejenigen, die von Verfolgung bedroht sind.
Die Aufnahmegesellschaft und ihre Institutionen
Die Beziehungen zugewanderter russischer Aktivist*innen zu potenziellen Zielgruppen in den beiden Aufnahmegesellschaften unterscheiden sich erheblich. Politisch engagierte russische Migrant*innen in Georgien haben wenig Kontakt mit der georgischen Gesellschaft und ihren zivilgesellschaftlichen Organisationen. Sie sind sich bewusst, dass ihre Präsenz in Georgien mit dem russischen Staat und imperialen Haltungen in Verbindung gebracht werden kann. Tsypylma Darieva erklärt: „Die derzeitige georgische Debatte über Visabeschränkungen für russische Staatsangehörige und eine allgemein vorsichtige Haltung gegenüber Neuankömmlingen könnten den Umfang des Engagements von Migrant*innen in Zukunft einschränken und die Zweifel Zugewanderter an ihren langfristigen Perspektiven in Georgien bestätigen.“ Im Vergleich zu ihren Pendants in Georgien setzen sich russische Migrant*inneninitiativen in Deutschland stärker mit ihren Zielgruppen auseinander und ihre Interaktionen mit der lokalen Zivilgesellschaft und politischen Akteuren sind vielfältiger. Gleichzeitig ist die wiederkehrende Pro-Kriegs-Mobilisierung einiger anderer russischsprachiger Migrant*innen in Deutschland eine Quelle von Konflikten.
Russische Migrant*innen und ihre Netzwerke im Ausland
Durch die Unterstützung von Neuankömmlingen und den Aufbau von Migrant*innencommunities wollen die Aktivist*innen sich sichtbarer gegen das Kreml-Regime positionieren. Die Überwindung politischer Isolation und die Förderung politischen Engagements haben sich als schwierig erwiesen. Die Idee, dass politische und zivilgesellschaftliche Aktivitäten nach dem Verlassen Russlands von einem (relativ) sicheren Ort aus fortgesetzt werden sollten, wird in mehreren Interviews geäußert. „Aktivistische Migranten sehen oft eine politische Verpflichtung zum Handeln und eine moralische Verpflichtung zur Solidarität mit Aktivist*innen und Dissident*innen, die in Russland geblieben sind“, stellt Tatiana Golova fest.
Ukrainer*innen
Humanitäre Hilfe für Ukrainer*innen ist zu einem wichtigen Bereich des Engagements russischer Migrant*innen geworden. Hier ist die direkte Interaktion mit Ukrainer*innen noch bis zu einem gewissen Grad möglich, während die Zusammenarbeit im politischen Bereich weitaus problematischer ist. Tatiana Golova beschreibt das Dilemma, in dem sich russische Aktivist*innen hier befinden: „Einerseits ist es für Antikriegsaktivist*innen wichtig, sich als Menschen zu positionieren, die aus Russland kommen und gegen das derzeitige Regime sind. Andererseits kann dies ein Hindernis für die Zusammenarbeit mit einigen ukrainischen Diaspora-Initiativen sein, die sich angesichts des brutalen Krieges und der weiterreichenden imperialen Tradition Russlands weigern, mit Akteuren zusammenzuarbeiten, die sich als Russ*innen positionieren.“
Stefanie Orphal , Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)
Originalpublikation:
https://www.zois-berlin.de/fileadmin/media/Dateien/3-Publikationen/ZOiS_Reports/…