„Direkt vor unseren Augen. Wie Pädokriminelle im Internet vorgehen und wie wir Kinder davor schützen“

Interview mit Daniel Moßbrucker

Sie arbeiten als Journalist und Trainer für digitale Sicherheit. Ihr Schwerpunkt liegt auf den Themen Überwachung, Datenschutz und Internetregulierung. Warum und seit wann beschäftigen Sie sich mit dem Thema Pädokriminalität?

Buchcover "Direkt vor unseren Augen" schwarz mit gelber Schrift

„Direkt vor unseren Augen. Wie Pädokriminelle im Internet vorgehen und wie wir Kinder davor schützen“
Sie arbeiten als Journalist und Trainer für digitale Sicherheit. Ihr Schwerpunkt liegt auf den Themen Überwachung, Datenschutz und Internetregulierung. Warum und seit wann beschäftigen Sie sich mit dem Thema Pädokriminalität?
Um es mit einem Wort zu sagen: Lügde. Dieser schwere Fall von Kindesmissbrauch, der Anfang 2019 bekannt wurde, brachte mich zu diesem Thema. Lügde war in seiner Dimension nicht zu ignorieren, und es war der Auftakt für eine Serie von Fällen: Münster, Bergisch-Gladbach, Wermelskirchen. Immer wieder spielte das Darknet eine Rolle, weshalb mich Redaktionen aufgrund meiner Kenntnisse in IT-Sicherheit und Darknet-Recherchen ansprachen. Aber viele scheuten dann die rechtlichen Risiken. Der Norddeutsche Rundfunk aber investierte Zeit und Geld in rechtliche Analysen und eine sichere, autonome IT-Umgebung, mit der wir technisch, rechtlich und ethisch vertretbar in pädokriminellen Zirkeln recherchieren konnten. Wenn man sieht, welche Daten wir erhoben haben und welche Skandale der Ermittlungsbehörden ans Licht kamen, war es die richtige Entscheidung, diesen steinigen Weg zu gehen.

Bei Ihren Recherchen sehen Sie sicherlich viele Inhalte, die schwer zu ertragen sind. Wie halten Sie das aus?

Wir haben ein System entwickelt, mit dem wir im Standardfall nie Fotos und Videos zu sehen bekommen. Diese schlimmen Bildnisse müssen wir eigentlich nie ansehen, um Fälle verstehen zu können. Anders als Strafverfolgungs-behörden jagen wir ja nicht die einzelnen Täter:innen und müssen Betroffene identifizieren, sondern uns interessieren Strukturen, technische Details und repräsentative Daten. Die erheben wir wann immer möglich, ohne sich Fotos ansehen zu müssen. Gleichwohl bleibt es ein verstörendes Umfeld und es gibt Tage, an denen ich irgendwann sage: „Schluss für heute.“ Da haben alle im Team Verständnis für und wir sprechen viel und offen über unsere Erlebnisse.


Wie sichern Sie sich juristisch ab, wenn Sie im Darknet nach Pädokriminellen und deren Strategien recherchieren?

Es ist – verständlicherweise – ein sehr schmaler Grat, den das deutsche Strafrecht uns zum Recherchieren lässt. Wir berufen uns auf eine Ausnahme im Strafgesetzbuch, wonach man solche Seiten aufrufen darf, wenn es der Erfüllung beruflicher Pflichten dient. Die rechtlichen Hürden daran sind sehr hoch: Wir brauchen immer einen klaren Recherche-Ansatz, der von öffentlichem Interesse ist. Wir setzen nur besonders sichere Software ein, wir kennen unsere rechtlichen Grenzen genau und machen längst nicht alles, was wir technisch könnten. Als Journalist würde ich mir aber mehr Rechtssicherheit wünschen. Bei diesem wichtigen Thema kann es nicht sein, dass viele Medien aus Angst vor Strafverfolgung auf Recherchen verzichten.

Wie eng arbeiten Sie mit der Polizei zusammen?

Wir recherchieren nicht per se gegen die Polizei, aber auch niemals für sie. Wir recherchieren ergebnisoffen. Als Journalist:innen haben wir die Aufgabe, die Öffentlichkeit unabhängig zu informieren. Wenn Ermittlungen gut laufen, haben wir kein Problem damit, dies öffentlich so zu sagen. Aber wenn es Missstände gibt, ist es unsere berufliche Pflicht, diese zu enthüllen. Deswegen würden wir mit der Polizei niemals zusammenarbeiten, auch nicht beim so wichtigen Thema Kindesmissbrauch. Wir stehen im fairen Austausch miteinander, aber die Rollen sind klar verteilt. Das muss in einer Demokratie auch so sein.

Wieso wird gegen die einschlägigen Websites nicht vorgegangen? Warum ist die Strafverfolgung so schwierig?

Das hat drei Gründe. Erstens ist es so, dass gerade die professionellen Täter technisch versiert sind und sich durch Tools anonym im Netz bewegen. Eine Strafverfolgung ist also personalintensiv und damit teuer, Ressourcen sind in den Behörden aber knapp. Zweitens ist die pädokriminelle Szene global organisiert, Strafverfolgungsbehörden denken jedoch eher national. Es gibt zwar eine immer bessere internationale Vernetzung, aber im Kern fühlen sich Polizeibehörden nur dann zuständig, wenn es klare Hinweise auf einen Bezug zu ihrem Land gibt. Drittens sind die Ermittlungstaktiken nicht immer zeitgemäß. Wie ich im Buch argumentiere, müssten Polizeibehörden wie das BKA viel intensiver pädokriminelle Inhalte im Netz proaktiv löschen. Das sollte nicht zulasten der Täterermittlungen und dem Schutz betroffener Kinder gehen, aber aktuell stehen so viele löschbare Fotos und Videos aus Mangel an Löschressourcen teils jahrelang im Netz. Das darf so nicht bleiben. Die Foren ziehen immer mehr Menschen an, sie werden immer größer.

Sie schreiben, dass die von Pädokriminellen gestohlenen Fotos zu einem großen Teil von sozialen Medien wie Facebook oder Instagram stammen, die dort von stolzen und unbedachten Eltern, manchmal auch von den Kindern, selbst hochgeladen wurden. Wer trägt Ihrer Meinung nach die Verantwortung, um das zu verhindern?

Ich habe für das Buch exklusiv Daten erhoben zum Ausmaß dieses Bilder-Diebstahls. Viele Eltern, Großeltern und Verwandte können sich nicht vorstellen, wie real die Gefahr ist, dass Fotos gestohlen werden, beispielsweise, wenn sie bei WhatsApp weitergeleitet werden. Wir sprechen nicht über tausende, sondern über Millionen von Fotos, die milliardenfach (!) angesehen werden. Natürlich tragen die Verantwortung für den Klau diejenigen, die die Fotos
stehlen und ansehen, also Pädokriminelle. Aber aktuell machen es viele Erwachsene und Jugendliche den Pädokriminellen zu einfach. Für ein paar Likes landen die Fotos auf Instagram, ohne darüber nachzudenken werden Videos in WhatsApp-Gruppen geteilt. Im Buch gebe ich konkrete Tipps, welche Fotos besonders beliebt sind und wie wir alle mit einfachen Dingen das Risiko massiv senken können, dass sich Pädokriminelle für harmlose Kinderfotos interessieren.

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Der Autor Daniel Moßbrucker
Daniel Moßbrucker

Wie positionieren Sie sich im Spannungsfeld von Datenschutz und Kinderschutz einerseits und dem Wunsch nach einem freien Internet?

Es ist richtig, dass es zu Zielkonflikten kommen kann zwischen beiden Seiten und dann sind es am Ende politische Entscheidungen, sich für eine zu entscheiden.

Es ist richtig, dass es zu Zielkonflikten kommen kann zwischen beiden Seiten und dann sind es am Ende politische Entscheidungen, sich für eine zu entscheiden.
Aber: Dass das Gegensätze sind, ist viel seltener der Fall als man denkt. Was mich stört, ist das hohe Maß an Symbolpolitik beim Thema Kinderschutz. Durch meine Analyse der pädokriminellen Szene zeige ich im Buch, wie absurd manche der politischen Debatten sind. Beispielsweise die Vorratsdatenspeicherung oder die sogenannte Chatkontrolle: Sie werden von den Befürworter:innen als Allheilmittel angepriesen, ihre Wirkung dürfte inder Realität aber rasch verpuffen. Was wirklich helfen würde, ist unter Fachleuten Konsens und wird im Buch ausführlich behandelt. Aber es würde sehr viel Geld kosten.Deswegen wird so häufig auf den Datenschutz geschimpft, um von den eigentlichen Lösungen abzulenken.

Welche Forderungen stellen Sie an Eltern, Bildungsinstitutionen und Politik?

Es gibt viele kleinere, praktische Lösungen, die ich im Buch behandele. Aber über allem steht: Hinsehen! Niemand befasst sich gerne damit, dass Kindern sexualisierte Gewalt angetan wird. Niemand liest freiwillig ein Buch wie meines, in dem es um Pädokriminalität geht. Aber wenn wir weiter die Augen verschließen, tun wir den Pädokriminellen den größten Gefallen überhaupt. Sie leben davon, dass wir das Unerträgliche verdrängen, dass wir uns einbilden, „Sowas“ kann einem selbst nicht widerfahren. Dabei schätzen Fachleute, dass dreiviertel aller Taten im sozialen Nahfeld der Kinder stattfinden: in der Familie, im Freundeskreis, im Sportverein, in der Schule. Pädokriminelle gehen erstaunlich routiniert vor und haben Muster, die seit Jahrzehnten etabliert sind – mit denen sie jetzt durch das Internet den digitalen Raum erobert haben. Nur wenn wir wirklich hinsehen und verstehen, die Pädokriminelle „ticken“, haben wir eine Chance, ihnen zuvorzukommen. Ich hoffe, dass ich mit meinem Buch einen Beitrag leisten kann, dass in Zukunft mehr Menschen hinsehen können.

Das Buch erscheint am 1. September 2023

Daniel Moßbrucker arbeitet als Journalist zu den Themen Überwachung, Datenschutz und Internet-Regulierung. Seine Beiträge werden regelmäßig von überregionalen Medien und dem TV-Politikmagazin Panorama veröffentlicht. Für die Recherchen und die Datenaufbereitung zum Thema Kindesmissbrauch erhielt er 2022 mit einem Team von NDR und DER SPIEGEL den Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus.

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