Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, wonach der Aufkauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) teilweise gegen das Grundgesetz verstößt, erklärt Bert Van Roosebeke, cep-Fachbereichsleiter Finanzmärkte:
„Zum ersten Mal in der europäischen Integrationsgeschichte wagt Karlsruhe diesen Schritt. Vor allem dem EuGH gegenüber zeigt sich das Bundesverfassungsgericht streng und nimmt ihn in die Pflicht. Es zeigt sich unzufrieden mit der Haltung der EuGH, auf die technischen Details der Grenzen des EZB-Mandats nicht eingehen zu wollen und diese als gerichtlich kaum überprüfbar zu interpretieren. Das Vertrauen des EuGH in das rechtmäßige Verhalten der EZB hält Karlsruhe für naiv. Es versucht nun, Standards für die gerichtliche Überprüfung des EZB-Handelns durch den EuGH zu setzen. Das ist beachtlich und peinlich für den EuGH, unterliegt doch die EZB nicht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.“
Das Bundesverfassungsgericht baut aber auch eine Brücke. Karlsruhe sieht das entscheidende Problem darin, dass 1) die EZB nicht geprüft hat, ob die PSPP-Anleihekaufen für die Erreichung ihrer geldpolitischen Ziele wirklich notwendig waren, oder ob nicht mildere Mittel zur Verfügung standen und dass 2) der EuGH die EZB damit durchkommen lässt. Die EZB muss diese Verhältnismäßigkeitsprüfung nun durchführen, so dass die Bundesbank weiterhin am PSPP-Kaufprogramm teilnehmen kann.
Die EZB wird diese etwas konstruierten Hürden nehmen und das PSPP-Programm wird weiter durchgeführt werden. Wichtiger ist aber, dass das Bundesverfassungsgericht mit dieser Bedingung die EZB treibt und sie zwingt, sich der Frage nach den Grenzen ihres geldpolitischen Mandats zu stellen. Zu dem Urteil, dass die EZB mit dem PSPP-Programm ihr Mandat grundsätzlich überschreitet, wagt sich das Bundesverfassungsgericht nicht. Das hätte erst recht für das viel größere Corona-Anleihekaufprogramm (PEPP) gegolten und hätte zu schweren Verwerfungen an den Kapitalmärkten geführt. Dennoch sind die grundlegenden Zweifel des Bundesverfassungsgerichts offensichtlich. Dass die EZB überhaupt eine Abwägung der Folgen ihres – ihrer Ansicht nach – geldpolitisch motivierten Agierens durchführen muss, wird ihr nicht gefallen. Vorprogrammiert sind juristische Auseinandersetzungen in den kommenden Jahren darüber, ob diese Abwägung korrekt durchgeführt wurde und ob aus ihr die richtigen Schlussfolgerungen gezogen wurden. Unterm Strich drückt das Urteil das Misstrauen des Bundesverfassungsgerichts der EZB gegenüber aus. Karlsruhe nimmt auch die EZB in die Pflicht, genauer als bisher zu rechtfertigen, wo sie die Grenzen ihres Mandats sieht.
Das Bundesverfassungsgericht folgt dem EuGH aber auch. Karlsruhe folgt dem EuGH in der Einschätzung, dass das PSPP-Anleiheankaufprogramm der EZB kein Verstoß gegen die verbotene monetäre Staatsfinanzierung darstellt. Wichtig sei die Einhaltung einer Reihe von Kriterien für das Ankaufprogramm, die in der Gesamtbetrachtung dazu führen müssen, dass Eurostaaten sich nicht sicher sein können, dass die EZB ihre Staatsanleihen erwerben wird.
Relevant ist das Urteil insbesondere für das neue Corona-Ankaufprogramm der EZB (PEPP). Das Bundesverfassungsgericht hebt zwei “entscheidende Garantien” hervor, die im PEPP-Programm zur Disposition stehen: Die Ankaufobergrenze von 33% für Staatsanleihen und die Verteilung der Ankäufe nach Kapitalschlüssel der Eurostaaten an der EZB. Letzteres Kriterium erfüllt PEPP – anders als PSPP – nicht zwingend. Die PEPP-Ankäufe erlauben Schwankungen bei der Einhaltung des Kapitalschlüssels der nationalen Zentralbanken an der EZB. Es ist davon auszugehen, dass die EZB zuerst überproportional viele italienische Staatsanleihen kaufen wird. Auch hat die EZB angekündigt, prüfen zu wollen, mehr als 33% der Staatsanleihen einer jeweiligen Emission aufzukaufen. Mit der Betonung beider Kriterien meldet das Bundesverfassungsgericht ernsthafte Zweifel darüber an, ob PEPP in dieser Ausgestaltung mit dem Bail-out-Verbot vereinbar ist.“