Neues Forschungsprojekt zu lesbischen Lebenswelten im deutschen Südwesten

Ein Team der Universitäten Freiburg und Heidelberg untersucht den Alltag frauenliebender Frauen von 1945 bis in die 1980er Jahre

Wie sah der Alltag frauenliebender Frauen nach 1945 jenseits großer Metropolen wie Berlin oder Hamburg aus? Wie wirkte der Nationalsozialismus nach, wie veränderten sich die Lebensbedingungen? Wie zeigte sich der politische Aufbruch der Lesbenbewegung seit den späten 1970er Jahren? Solchen bisher weitgehend unerforschten Fragen widmen sich Wissenschaftler*innen des im Mai 2023 beginnenden Forschungsprojekts „Zwischen Unsichtbarkeit, Repression und lesbischer Emanzipation – Frauenliebende* Frauen im deutschen Südwesten 1945 bis 1980er Jahre“ der Universitäten Freiburg und Heidelberg. Das gemeinsame Projekt wird vom baden-württembergischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst gefördert und läuft bis 2025.

Kontinuitäten und Brüche

„Die Geschichte weiblicher Homosexualität führt in der wissenschaftlichen Forschung noch immer ein Schattendasein“, sagt Prof. Dr. Sylvia Paletschek, Professorin für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Freiburg und eine der Projektleiterinnen. „Das wollen wir ändern. Wir werden auch Zeitzeuginnen befragen und Quellen sichern, bevor es dafür zu spät ist.“ Die Forscherinnen gehen davon aus, dass Einschnitte wie das Ende des Zweiten Weltkriegs, die Gründung der Bundesrepublik, das Wirtschaftswunder oder das Aufkommen neuer sozialer Bewegungen seit den 1960er Jahren zwar die Rahmenbedingungen lesbischen Lebens veränderten, gesellschaftliche Normen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zunächst jedoch vielfach weiterwirkten.

„Unsere These ist, dass Kontinuitäten den Lebensalltag zunächst stärker prägten als politische, soziale und ökonomische Brüche, die neue Möglichkeitsräume eröffnet hätten. Normen, Vorstellungen und teilweise auch die implizite und explizite Geschlechter- und Familienpolitik wandelten sich erst nach und nach und damit verzögert. Heteronormativität prägte unhinterfragt den Alltag“, sagt Paletschek. Eine zentrale Analysekategorie des Projekts ist die gesellschaftspolitische Vorstellung der Heteronormativität, nach der ausschließlich Beziehungen zwischen Mann und Frau als Norm und damit als ‚normal‘ gelten. Heteronormative Vorstellungen prägen unhinterfragt, unreflektiert und vielfach unbewusst Privat- und Gesellschaftsleben und durchdringen diese strukturell.

Vorangehende Forschungen zu Weimar und NS

Das Forschungsvorhaben ist in drei Teilprojekte aufgeteilt. Sylvia Paletschek und ihre Mitarbeiterin Muriel Lorenz erforschen an der Universität Freiburg „Akteurinnen* – Vernetzungen – Kommunikationsräume“. Ziel ist, die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Errungenschaften frauenliebender, nicht-heteronormativ lebender Frauen der 1950er- bis 1970er-Jahre sichtbar zu machen: Was änderte sich im gesellschaftlichen Alltag nach Kriegsende bis in die 1970er Jahre? In welchen politischen, sozialen, öffentlichen oder teilöffentlichen Arenen konnten sich frauenliebende Frauen begegnen und verständigen – etwa in Verbänden der Frauenbewegung, in Frauengruppen von Parteien, in Bildungszusammenhängen, kulturellen Räumen oder gar in politischen Gremien? Zwei weitere Teilprojekte an der Universität Heidelberg untersuchen zum einen „Grenzerfahrungen des Privaten. Die Wahrnehmung der Heteronorm und ihre rechtliche Durchsetzung“. Zudem anderen gehen die Forschenden der Frage nach, wie im Südwesten die Medizin und insbesondere die Psychiatrie mit weiblicher Homosexualität umging.

In einem so genannten Anforschungsprojekt haben sich die Wissenschaftler*innen bereits in allen drei Teilprojekten mit der Zeit des Nationalsozialismus und der Weimarer Republik befasst. „So können jetzt Veränderungen sowie Kontinuitäten über politische Systeme hinweg sichtbar werden“, sagt Paletschek. In den drei Teilprojekte entsteht jeweils eine Dissertation.

Oral History und graue Literatur als Quellen

„Die Konzentration des Projektes auf die Jahre nach 1945 ist auch geschichtspolitisch und erinnerungskulturell motiviert“, sagt Paletschek. So müsse jetzt eine valide Quellenbasis für die zukünftige Erforschung lesbischen Lebens gesichert werden. Für die Nachkriegszeit bis in die frühen 1980erJahre können noch Zeitzeug*innen mit der Methode der Oral History nach ihrer Geschichte befragt werden. Außerdem bildet so genannte graue Literatur eine wichtige Quelle für dieses Thema, also etwa Flugblätter sowie Selbstzeugnisse und Erinnerungen der Nachkriegsgeneration frauenliebender Frauen und lesbischer Aktivist*innen.

In einem eigenen Blog zum Projekt berichten die Forschenden regelmäßig über ihre Arbeit und Zwischenergebnisse. Auch Studierende aus begleitenden Lehrveranstaltungen sowie Wissenschaftler*innen aus anderen Forschungsprojekten zu verwandten Themen kommen hier mit eigenen Beiträgen zu Wort. „Mit dem Blog wollen wir queere Geschichte sichtbar machen und nach außen tragen“, sagt Muriel Lorenz.

Blog zum Projekt: https://lesbenwelt.hypotheses.org/uber

Faktenübersicht:

  • „Zwischen Unsichtbarkeit, Repression und lesbischer Emanzipation – Frauenliebende* Frauen im deutschen Südwesten 1945 bis 1980er Jahre“ ist ein gemeinsames Forschungsprojekt der Universitäten Freiburg und Heidelberg. Es läuft vom 1. Mai 2023 bis zum 30. April 2025 und wird vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg mit etwa mehr als 660.000 Euro gefördert.
  • Sylvia Paletschek ist Professorin für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und Prorektorin für Universitätskultur an der Universität Freiburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Frauen- und Geschlechtergeschichte, Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte sowie Geschichtskultur und Populäre Darstellungen von Geschichte.
  • Muriel Lorenz hat Vergleichende Geschichte der Neuzeit (MA) in Freiburg studiert und ist seit März 2021 als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin im Forschungsprojekt tätig.

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